Über die gesellschaftliche Befindlichkeit in Deutschland und den Einfluss von Besserwissern, Hypochondern, Gutmenschen und Angsthubern auf die Politik in Deutschland.
Im Biotop der Besserwisser oder: Auf dem Weg in die Unfreiheit.
[…] Die Politik sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, gesellschaftliche Entwicklungen offenzuhalten, der Bürger wird heute zum ungefragten Erfüllungsgehilfen auf dem Weg zu angeblich höheren gesellschaftlichen Zwecken, er wird instrumentalisiert. […]
Die Erfahrung des Totalitarismus hatte in den vierziger Jahren die Erkenntnis gebracht, dass der Einflussbereich des Staates so eng zu begrenzen ist, dass er als Hüter der allgemeinen gesellschaftlichen Spielregeln auftritt, nicht aber selbst die Tore schießt. […]
Das Individuum verschwindet hinter dem Kollektiv, die Politik begeht die moralische Verfehlung der Bevormundung. Und damit geht sie in jene Falle, die mit dem Zusammenbruch des Sozialismus doch eigentlich hätte verschwunden sein sollen: die Falle des Konstruktivismus und der „Anmaßung von Wissen“, wie es der große Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek ausgedrückt hat.
Unsere Gesellschaft ist kein fertiges, bestehendes, großes Ganzes, ebenso wenig wie der Staat. Die Gesellschaft setzt sich aus einer riesigen Zahl von Individuen zusammen, von denen viele irgendwie miteinander interagieren. Die Gesellschaft hat keine eigene, unabhängige Substanz. Sie ist nichts anderes als eine Art fotografische Momentaufnahme der Interaktion von mitunter höchst unterschiedlichen Menschen. Als Mensch, als Teil der Schöpfung ist das Individuum Selbstzweck. Jedes Individuum hat ein Anrecht auf ein freies und selbst bestimmtes Leben nach seinem eigenen Willen – soweit damit nicht die Freiheitsrechte anderer Menschen verletzt werden. Das Individuum einer gesellschaftlichen Rationalität unterzuordnen, ist eine Ungeheuerlichkeit.
[…] Politisches Vorgreifen ist immer eine Anmaßung und zwangsläufig schädlich. Mit guten oder schlechten Absichten hat das gar nichts zu tun – es ist nur so, dass die Politik gar nicht wissen kann, was für die aus lauter Individuen zusammengesetzte Gesellschaft gut ist, bevor diese Individuen das im Zuge der spontanen Ordnung selbst herausgefunden haben.
In der Berliner Republik indes wird der Bürger an allen Ecken und Enden bevormundet. […] Die Politik befleißigt sich vielmehr, diese gesellschaftlichen Prozesse sogar noch zu verstopfen, indem sie die Endergebnisse diktiert und die Vielfalt wegnimmt. Sie sagt uns, wie wir leben sollen. Damit unterbindet sie gerade das, was für die Entwicklung unserer Gesellschaft entscheidend ist. Bloß davon haben unsere Berliner Besserwisser, die sich als Sozialingenieure über den Bürger erheben, offenbar noch nie etwas gehört. Und so schreiten wir immer weiter fort – auf dem Weg in die Unfreiheit.[1]
Hypochondrie ist auch eine Frage der kulturellen Befindlichkeit. Jede Nation leidet auf ihre Weise, die deutsche besonders intensiv.
[…] Das Waldsterben, falls es existierte, ist übrigens niemals kuriert, sondern nur verdrängt worden von der Beobachtung anderer eingebildeter oder tatsächlicher Leiden. Sie sind größtenteils eine Definitionsfrage. Die Furcht vor radioaktiver oder chemischer Vergiftung hat sich in einer Bestimmung extrem niedriger Grenzwerte niedergeschlagen, die zuverlässig dafür sorgen, dass es der Furcht nicht an Bestätigung mangeln wird. Lang ist die Liste von Missständen, die nur hierzulande auftreten, weil sie in anderen Ländern nicht als solche deklariert wurden. Aus der Medizin ist bekannt, dass in Deutschland der niedrige Blutdruck als Krankheit behandelt wird, während er anderswo als lebensverlängerndes Konstitutionsmerkmal gilt.
Es gibt eine sozialpsychologische Theorie, nach der alle geistigen Störungen, die bei Individuen auftreten, sich auch im Kollektiv beobachten lassen. Das heißt: Nicht nur Einzelne können unter einem Verfolgungswahn leiden, sondern auch Familien, Gruppen, am Ende Nationen. Nicht nur Einzelne, sondern ganze Kulturen können neurotische Züge entwickeln wie etwa den in Europa belächelten Hygienefimmel der Amerikaner. […]
Die Franzosen kennen weder den amerikanischen Hygienefimmel noch die deutsche Furcht vor Kreislauferkrankungen, sie fürchten aber um ihre Leber. […]
Gehört die Hypochondrie der Deutschen zu diesen Leiden, die das Gesicht einer nationalen Epoche artikulieren? Sie selbst scheinen es jedenfalls so zu empfinden. Zu den Klagen der Deutschen gehört nämlich vor allem auch die Klage darüber, dass sie so viel klagen.
Man müsste daher, um sie zu Hypochondern zu erklären, in die Definition der Krankheit eine paradoxe Variante aufnehmen: dass zu den eingebildeten Leiden, vor denen sich der Hypochonder fürchtet, auch die Hypochondrie selbst gehören kann. Ist ein Patient denkbar, der von Arzt zu Arzt eilt, um sich Hypochondrie bescheinigen zu lassen? Die These scheint etwas wacklig, unter anderem auch, weil das Moment der Selbstbezichtigung, das darin steckt, eher auf eine Depression deutet. Der Depressive fühlt sich ja immerfort schuldig, auch an Dingen, die ganz außerhalb seiner Reichweite liegen, und wäre deshalb sofort bereit, die Depression selbst als Zeichen seines Versagens zu deuten.
Es gibt aber ein anderes Indiz, das bei den Deutschen auf Hypochondrie deuten könnte. Es steckt in der Unzahl von Verordnungen und Gesetzen, die ständig erlassen werden, um Missständen abzuhelfen, die noch gar nicht oder doch sehr selten aufgetreten sind. Ein krasses Beispiel aus jüngster Zeit ist das Antidiskriminierungsgesetz, das zwar keine Arbeitsplätze schafft, aber für den Fall, dass doch jemand neu angestellt werden könnte, dafür sorgen möchte, dass dabei wenigstens niemand wegen seines Geschlechts, seiner Hautfarbe oder sexuellen Orientierung benachteiligt wird. Behörden und Gesetzgeber entwickeln eine schon krankhafte Fantasie für alles, was dem Bürger zustoßen oder was er falsch machen könnte. Dahinter steckt, was auch jeden Privathypochonder auszeichnet, nämlich eine übertriebene Vorstellung von Gesundheit und Ordnung.
Der Hypochonder denkt, wenn ihm das Herz klopft, nicht, dass er aufgeregt, sondern dass er krank ist. Der deutsche Gesetzgeber denkt, wenn ein Radfahrer ohne Licht fährt, nicht an Schlampigkeit oder Zerstreutheit, sondern dass man ihm eine Lichtanlage verordnen muss, die immer und unter allen Umständen funktioniert. […]
So überzieht sich das Land mit einer Fülle kleiner und kleinster Vorsichtsmaßregeln, unter denen jede Initiative erstickt. Der Bürger wird unbeweglich wie jener tatsächliche Hypochonder, der nicht ohne ein Dutzend Pillen, linksdrehendes Mineralwasser und zwei Satz Flanellunterwäsche auf Reisen gehen kann und es deshalb lieber unterlässt. Die Parallele endet allerdings bei dem Motiv. Der Vorsorgefanatismus der deutschen Gesellschaft ist weniger auf die eigene Gesundheit gerichtet als darauf, an der ungesunden Entwicklung anderer nicht schuldig werden zu wollen. In dieser panischen Schuldvermeidungsstrategie – nämlich niemals und nirgendwo für irgendetwas haftbar gemacht werden zu können – steckt dann doch ein deutlich depressiver Grundzug, der sich, wer weiß, aus der deutschen Geschichte leicht erklären lässt.[2]
Exkurs über Besserwisser und Hypochonder
Über die gesellschaftliche Befindlichkeit in Deutschland und den Einfluss von Besserwissern, Hypochondern, Gutmenschen und Angsthubern auf die Politik in Deutschland.
Im Biotop der Besserwisser oder: Auf dem Weg in die Unfreiheit.
[…] Die Politik sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, gesellschaftliche Entwicklungen offenzuhalten, der Bürger wird heute zum ungefragten Erfüllungsgehilfen auf dem Weg zu angeblich höheren gesellschaftlichen Zwecken, er wird instrumentalisiert. […]
Die Erfahrung des Totalitarismus hatte in den vierziger Jahren die Erkenntnis gebracht, dass der Einflussbereich des Staates so eng zu begrenzen ist, dass er als Hüter der allgemeinen gesellschaftlichen Spielregeln auftritt, nicht aber selbst die Tore schießt. […]
Das Individuum verschwindet hinter dem Kollektiv, die Politik begeht die moralische Verfehlung der Bevormundung. Und damit geht sie in jene Falle, die mit dem Zusammenbruch des Sozialismus doch eigentlich hätte verschwunden sein sollen: die Falle des Konstruktivismus und der „Anmaßung von Wissen“, wie es der große Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek ausgedrückt hat.
Unsere Gesellschaft ist kein fertiges, bestehendes, großes Ganzes, ebenso wenig wie der Staat. Die Gesellschaft setzt sich aus einer riesigen Zahl von Individuen zusammen, von denen viele irgendwie miteinander interagieren. Die Gesellschaft hat keine eigene, unabhängige Substanz. Sie ist nichts anderes als eine Art fotografische Momentaufnahme der Interaktion von mitunter höchst unterschiedlichen Menschen. Als Mensch, als Teil der Schöpfung ist das Individuum Selbstzweck. Jedes Individuum hat ein Anrecht auf ein freies und selbst bestimmtes Leben nach seinem eigenen Willen – soweit damit nicht die Freiheitsrechte anderer Menschen verletzt werden. Das Individuum einer gesellschaftlichen Rationalität unterzuordnen, ist eine Ungeheuerlichkeit.
[…] Politisches Vorgreifen ist immer eine Anmaßung und zwangsläufig schädlich. Mit guten oder schlechten Absichten hat das gar nichts zu tun – es ist nur so, dass die Politik gar nicht wissen kann, was für die aus lauter Individuen zusammengesetzte Gesellschaft gut ist, bevor diese Individuen das im Zuge der spontanen Ordnung selbst herausgefunden haben.
In der Berliner Republik indes wird der Bürger an allen Ecken und Enden bevormundet. […] Die Politik befleißigt sich vielmehr, diese gesellschaftlichen Prozesse sogar noch zu verstopfen, indem sie die Endergebnisse diktiert und die Vielfalt wegnimmt. Sie sagt uns, wie wir leben sollen. Damit unterbindet sie gerade das, was für die Entwicklung unserer Gesellschaft entscheidend ist. Bloß davon haben unsere Berliner Besserwisser, die sich als Sozialingenieure über den Bürger erheben, offenbar noch nie etwas gehört. Und so schreiten wir immer weiter fort – auf dem Weg in die Unfreiheit.[1]
Hypochondrie ist auch eine Frage der kulturellen Befindlichkeit.
Jede Nation leidet auf ihre Weise, die deutsche besonders intensiv.
[…] Das Waldsterben, falls es existierte, ist übrigens niemals kuriert, sondern nur verdrängt worden von der Beobachtung anderer eingebildeter oder tatsächlicher Leiden. Sie sind größtenteils eine Definitionsfrage. Die Furcht vor radioaktiver oder chemischer Vergiftung hat sich in einer Bestimmung extrem niedriger Grenzwerte niedergeschlagen, die zuverlässig dafür sorgen, dass es der Furcht nicht an Bestätigung mangeln wird. Lang ist die Liste von Missständen, die nur hierzulande auftreten, weil sie in anderen Ländern nicht als solche deklariert wurden. Aus der Medizin ist bekannt, dass in Deutschland der niedrige Blutdruck als Krankheit behandelt wird, während er anderswo als lebensverlängerndes Konstitutionsmerkmal gilt.
Es gibt eine sozialpsychologische Theorie, nach der alle geistigen Störungen, die bei Individuen auftreten, sich auch im Kollektiv beobachten lassen. Das heißt: Nicht nur Einzelne können unter einem Verfolgungswahn leiden, sondern auch Familien, Gruppen, am Ende Nationen. Nicht nur Einzelne, sondern ganze Kulturen können neurotische Züge entwickeln wie etwa den in Europa belächelten Hygienefimmel der Amerikaner. […]
Die Franzosen kennen weder den amerikanischen Hygienefimmel noch die deutsche Furcht vor Kreislauferkrankungen, sie fürchten aber um ihre Leber. […]
Gehört die Hypochondrie der Deutschen zu diesen Leiden, die das Gesicht einer nationalen Epoche artikulieren? Sie selbst scheinen es jedenfalls so zu empfinden. Zu den Klagen der Deutschen gehört nämlich vor allem auch die Klage darüber, dass sie so viel klagen.
Man müsste daher, um sie zu Hypochondern zu erklären, in die Definition der Krankheit eine paradoxe Variante aufnehmen: dass zu den eingebildeten Leiden, vor denen sich der Hypochonder fürchtet, auch die Hypochondrie selbst gehören kann. Ist ein Patient denkbar, der von Arzt zu Arzt eilt, um sich Hypochondrie bescheinigen zu lassen? Die These scheint etwas wacklig, unter anderem auch, weil das Moment der Selbstbezichtigung, das darin steckt, eher auf eine Depression deutet. Der Depressive fühlt sich ja immerfort schuldig, auch an Dingen, die ganz außerhalb seiner Reichweite liegen, und wäre deshalb sofort bereit, die Depression selbst als Zeichen seines Versagens zu deuten.
Es gibt aber ein anderes Indiz, das bei den Deutschen auf Hypochondrie deuten könnte. Es steckt in der Unzahl von Verordnungen und Gesetzen, die ständig erlassen werden, um Missständen abzuhelfen, die noch gar nicht oder doch sehr selten aufgetreten sind. Ein krasses Beispiel aus jüngster Zeit ist das Antidiskriminierungsgesetz, das zwar keine Arbeitsplätze schafft, aber für den Fall, dass doch jemand neu angestellt werden könnte, dafür sorgen möchte, dass dabei wenigstens niemand wegen seines Geschlechts, seiner Hautfarbe oder sexuellen Orientierung benachteiligt wird. Behörden und Gesetzgeber entwickeln eine schon krankhafte Fantasie für alles, was dem Bürger zustoßen oder was er falsch machen könnte. Dahinter steckt, was auch jeden Privathypochonder auszeichnet, nämlich eine übertriebene Vorstellung von Gesundheit und Ordnung.
Der Hypochonder denkt, wenn ihm das Herz klopft, nicht, dass er aufgeregt, sondern dass er krank ist. Der deutsche Gesetzgeber denkt, wenn ein Radfahrer ohne Licht fährt, nicht an Schlampigkeit oder Zerstreutheit, sondern dass man ihm eine Lichtanlage verordnen muss, die immer und unter allen Umständen funktioniert. […]
So überzieht sich das Land mit einer Fülle kleiner und kleinster Vorsichtsmaßregeln, unter denen jede Initiative erstickt. Der Bürger wird unbeweglich wie jener tatsächliche Hypochonder, der nicht ohne ein Dutzend Pillen, linksdrehendes Mineralwasser und zwei Satz Flanellunterwäsche auf Reisen gehen kann und es deshalb lieber unterlässt. Die Parallele endet allerdings bei dem Motiv. Der Vorsorgefanatismus der deutschen Gesellschaft ist weniger auf die eigene Gesundheit gerichtet als darauf, an der ungesunden Entwicklung anderer nicht schuldig werden zu wollen. In dieser panischen Schuldvermeidungsstrategie – nämlich niemals und nirgendwo für irgendetwas haftbar gemacht werden zu können – steckt dann doch ein deutlich depressiver Grundzug, der sich, wer weiß, aus der deutschen Geschichte leicht erklären lässt.[2]