Es ist seit geraumer Zeit eine Entwicklung zu einer infantilen Gesellschaft zu beobachten. Der Trend zum Kindischen und der Unwille, erwachsen zu werden, verstärken sich. Immer mehr Mittdreißiger verlängern ihre Jugend bis hart an den Vorruhestand. Jugendwahn, Körperkult, Narzissmus und egoistische Selbstverwirklichung bilden ein neues Massenphänomen die „Kindliche Gesellschaft“.[1] Die Grenzen zwischen dämlich und kindisch, pubertär und halberwachsen sind dabei fließend.
An dieser Stelle soll nur auf zwei Punkte aufmerksam gemacht werden.
Zum einen wird nicht mehr mit zwanzig geheiratet und eine Familie gegründet, wenn also Mann wie Frau auf dem Höhepunkt ihrer reproduktiver Kraft stehen, sondern der Zeitpunkt wird immer weiter nach hinten verschoben, bei Frauen oft bis an die Grenze, wo ihre Fruchtbarkeit zur Neige geht. Offenbar scheut man die Verantwortung und möchte die unbeschwerte Jugendzeit künstlich verlängern.
Zum zweiten wird immer mehr Verantwortung an den Staat, beziehungsweise an die HelferInnenindustrie abgetreten. Norbert Bolz schreibt dazu, dass „Soziale Gerechtigkeit“ als Umverteilung für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit sorgt; sie bringt den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen muss man nämlich damit rechnen, dass der Versuch, den Opfern zu helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität zu entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtstaatlichen Leistungen abhängig ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen.
Bereits im Abschnitt Sozialpolitik wurde darauf hingeweisen, dass Betreuer den Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter.[2] Die staatliche Pflegeversicherung gibt es schon, da brauchen wir uns um die Alten nicht mehr kümmern. Die staatlichen Kinderdepots für die Kleinkindbetreuung kommen inzwischen auch, da brauchen wir uns auch um die Jungen nicht mehr zu kümmern. Eigentlich kümmern wir uns nur noch um uns selbst. Seit etwa Ende der 1990er Jahre entwickelt sich eine Ego-Gesellschaft, in der jeder Aufschub von Glücksmomenten als persönliche Kränkung aufgefasst wird. Jedes objektive Hindernis im Alltag erscheint als Sabotage an der Selbstverwirklichung im Hier und Jetzt. Gerade der Feminismus führt seit den 1970er Jahren ununterbrochen die Selbstverwirklichung der Frau im Munde, hat aber letztlich nur die Infantilisierung der Frau gefördert durch die Bestätigung der weiblichen Opferhaltung. Was hält die Männer ab, es den Frauen gleich zu tun?
Diese kollektive kindliche Genusssucht passt zur weit verbreiteten Abneigung gegen emotionale Bindungen und persönliche Verantwortung. Was einst Jugend war und im Werther– oder Revoluzzerstil gegen die Welt der Erwachsenen rebellierte, ist durch einen flächendeckend synthetischen Jugendwahn der ganzen Gesellschaft ersetzt worden. Das Verschwinden der Erwachsenen ist in vollem Gange. Harald Juhnke war nur der prominenteste Fall eines älteren Herrn, der, statt für seine Ausfälle regresspflichtig gemacht zu werden, immer wieder – und erfolgreich – auf regressive Unzurechnungsfähigkeit plädierte und damit die Massen unterhielt. Die legitime Schwester der Infantilisierung ist die „Viktimisierung“, der Hang, sich stets als ohnmächtiges Opfer der Gesellschaft zu inszenieren und damit die eigene Verantwortung auf ein gerade noch erträgliches Mindestmaß zu reduzieren. So scheint die Welt als ein einziger Kindergeburtstag mit angeschlossenem Ferienklub.
„Ich will gar nicht groß werden“, ruft Peter Pan, als er ins Nimmerland floh. „Ich will immer ein kleiner Junge sein und meinen Spaß haben.“ Heute gibt es nicht einen, heute gibt es viele Peter Pans. Sie sind männlich und weiblich und haben sich Nimmerland in ihre Welt geholt. Dabei erfreuen sie sich an ihren Smartphones wie das Baby an der Rassel in seiner oralen Phase. Der amerikanische Gesellschaftskritiker Neil Postman stellte eine Tabelle der kindlichen Eigenschaften auf und setzte ihr die der Erwachsenen gegenüber. Für die Kinder stehe der Impuls, für die Erwachsenen die Überlegung, für die Jungen das Gefühl, für die Älteren die Vernunft, für die einen der Dogmatismus, für die anderen der Selbstzweifel, für die Kids der Narzissmus, für die Oldies das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Viel ist von dieser Unterscheidung im Reich der nie endenden Adoleszenz nicht übrig geblieben.[3]
Man kann sich wundern über Menschen, die zwar ein gewisses Alter erreicht haben, aber dabei offensichtlich nicht reifen. Der Eindruck entsteht, als gäbe es vermehrt eine Weigerung, Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Das Erwachsenwerden wird vor sich hergeschoben und widerwillig abgelehnt. Die einen haben kaum Einsicht, dass sie für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen müssen und fühlen sich vom Leben hart rangenommen, wenn kein Weg daran vorbei geht. Andere wiederum verhalten sich anderen Menschen gegenüber lieblos oder hinterhältig oder konsumieren Beziehungen, haben aber kein Unrechtsbewusstsein. Und überhaupt wird viel Energie darauf verwendet, die Schuld oder Verantwortung bei anderen zu suchen.
Erwachsen werden hat etwas zu tun mit Verantwortung übernehmen, doch oft gewinnt man den Eindruck, dass die Menschen nicht mal die Verantwortung für sich selbst, geschweige denn für andere übernehmem möchten. Da gibt es Familienväter Mitte 40, die sich immer neue Liebschaften genehmigen, Frauen, denen reichlich spät einfällt, dass sie sich bisher noch nicht selbst verwirklicht haben.
Die Infantilisierung Deutschlands hat auch dazu beigetragen, dass es immer weniger echte Kinder gibt. Gewiss sind gesellschaftliche Kinderfeindlichkeit, das finanzielle Risiko oder persönliche Bequemlichkeit auch Ursachen für den Fortpflanzungsunwillen der Deutschen. Doch die Großstadt-Singles jenseits der Vierzig, die Hauptverdächtigen im Falle des Bevölkerungsknicks, sind meist eher Menschen, die unter dem Einfluss hedonistischer Propagandaverheißungen so lange vor dem Erwachsenwerden geflohen sind, bis sie irgendwann mit Grausen feststellen mussten, dass sie nunmehr alt waren – zumindest körperlich. Kinder hätten in diesen Verblendungszusammenhängen nur gestört. Schlimm genug wäre schon der Realitätsschock durch das Auftreten eines Fürsorge verlangenden Kleinkindes.
Solchen Herausforderungen steht eine politische Klasse gegenüber, die von den regressiven Psychotendenzen voll erfasst wurde. Der zuletzt von Herbert Grönemeyer begreinte alte Hippietraum von den „Kindern an der Macht“ ist längst wahr geworden. Symbolhaft ließen sie sich gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends alle auf Tretrollern fotografieren. Die Zahl der freiwillig kinderlosen Flüchtlinge vor dem Erwachsenwerden unter ihnen war noch nie so groß wie im Zeitalter der Westerwelles und Fischers. Infantil sind sie schließlich selbst. Wie die lieben Kleinen in der Trance des Spiels glauben sie, die Dinge verändern zu können, in dem man sie für verändert erklärt: „Dieses Sofakissen ist ein Walfisch“, sagt der Dreijährige und sieht Moby Dick schon vor sich. „Deutschland muss wieder Weltspitze werden“, sagen die Politiker und fühlen sofort, wie alles besser wird. Dafür erwarten sie dann gleich Liebe und Anerkennung wie Kindergartenkinder, die zum ersten Mal ganz allein auf dem Töpfchen waren.[4]
Die Infantilisierung scheint die gesamte Gesellschaft erfasst zu haben. Über die Politiker in Öko- oder Piratenkluft ist dabei noch gar nicht gesprochen: „Der Piraten-Politiker, der immer weiter als Computernerd auftritt, zeigt damit, dass er keine Verantwortung übernehmen will, sondern sich nur als Führer einer Pressuregroup von chipsknuspernden Raubkopierern versteht, die im Parlament mit etwas klotzen möchten, womit sie an der heimischen Tastatur sonst nur kleckern und krümeln können.“[5]
In diese infantile und verantwortungsvermeidende Gesellschaft passt natürlich die Flickwerk-Familie:
„Heute nennt man eine neu zusammengewürfelte Lebensgemeinschaft Patchwork-Familie. Das klingt viel lustiger – nach buntem Flickenteppich.“ [6]
Lustig wie Kindergeburtstag! Es wird als lustig empfunden, wenn Kinder in Bindungslosigkeit und unter ständigen Beziehungsabbrüchen aufwachsen müssen. Zu den Ritualen postmoderner Feuilleton-Diskurse gehört es, „Mythen“ zu „dekonstruieren“, die das Bewusstsein vermeintlich unaufgeklärter Zeitgenossen vernebelten. Eine besonders beliebte Zielscheibe ihrer Kritik ist die „soziale Konstruktion“ der Familie als Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern. Dieses „idealisierte“ Bild der bürgerlichen Kernfamilie sei ein Relikt der Nachkriegszeit, das den Blick auf die „Dynamik“ familialer Lebensformen verstelle. Der Rückzug der Kernfamilie seit den 1960er Jahren bedeute keinen Verlust, sondern einen Gewinn an „Vielfalt“. Es gebe daher keine Krise, sondern einen „Wandel“ der Familie.[7]
So könnte ein Banker den Kleinanleger, der seine gesamten Ersparnisse verloren hat, mit der Erklärung beruhigen, die Bankenkrise würde eben auch „Chancen“ bieten, die es zu „nutzen“ gelte. Der Konkurs wird zum Gewinn umdefiniert. Neue Lebensformen wie das „living apart together“ (LAT) werden angepriesen als „verändertes Partnerschaftsideal, das stärker auf Autonomie setzt“. Familie wandele so ihre Gestalt: Sie sei „nicht mehr so stark auf den Haushalt beschränkt“ und habe „zunehmend den Charakter von sozialen Netzwerken“. „Familie“ ist also alles und nichts. In Fernsehtalkshows ist solcher Beliebigkeit Beifall sicher, Erkenntniswert fehlt ihr jedoch ebenso wie praktischer Nutzen.
Das soziale Netzwerk ist aber von alters her die Familie und nicht die flüchtige Liebschaft. Wenn die Familie nicht mehr ist, ist auch das soziale Netzwerk futsch. Die Floskel zur Bedeutung der Familie hat etwa die Bedeutung, wie die Erklärung gegenüber dem nun mittellosen Geldanleger, man könne auch ohne Geld glücklich sein.
Für die Entscheidung zur Elternschaft ist die Institution der Ehe immer noch wichtig. Allerdings sind etwa vierzig Prozent der 30-39-Jährigen heute noch unverheiratet – seit 1980 hat sich die „Ledigenquote“ damit mehr als vervierfacht.[8] Die Ehe verliert also an Verbindlichkeit – aber führt diese „Dynamik“ zu mehr „Vielfalt“, mehr „Autonomie“ und mehr Freiheit im Zusammenleben?
Die nackte Empirie müsste eigentlich nachdenklich stimmen: Nach jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat sich der Anteil der ohne einen Partner lebenden 30- bis 40jährigen Frauen fast verdoppelt. In diesem klassischen Familienalter lebt inzwischen jede fünfte Frau und sogar jeder vierte Mann allein – Tendenz weiter steigend. Nicht wenige von ihnen dürften dieses Alleinleben weniger als selbstbestimmte Wahl, denn als unglückliches Schicksal erleben. Ihre Chancen eine eigene Familie zu gründen verbessert es sicher nicht. Aber das ist für Feuilletonisten ja auch nicht wichtig. Nebulös bleibt indes, welche Bindungen die von ihnen gepriesenen „Netzwerke“ zusammenhalten sollen.[9]
Schönheitsoperationen für ein immerwährend jugendliches Aussehen und die zunehmenden künstlichen Befruchtungen, um auch noch im fortgeschrittenen Alter schwanger werden zu können, runden das Bild der infantil gewordenen Gesellschaft ab. Je infantiler eine Gesellschaft auf einer einen Seite wird, desto paternalistischer wird sie auf der anderen Seite. Paternalismus bezeichnet eine Herrschaftsordnung, die im außerfamiliären Bereich ihre Autorität und Legitimierung auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrschenden und beherrschten Personen begründet. Mit anderen Worten: Der Staat wird immer bevormundender gegenüber einer immer unmündiger werdenden Bevölkerung auftreten. Immer mehr Vorschriften werden die Menschen in eine Richtung lenken, welche die Herrschenden als politisch und ökologisch korrekt vorgeben. Martin Lichtmesz schreibt in „eigentümlich frei“:
„Diese Jugendlichen wollen nicht Männer und Frauen werden, mit all den Konflikten und der Verantwortung, die das mit sich bringt, sie wollen, so scheint es, in einem regressiven, geschlechtslosen Status verharren, trotzdem aber all die Früchte des Hedonismus auskosten. Und dazu muss eben auch ein mirakulös allmächtiger Eltern-Versorgungsstaat her, der alles und jedes fördert, unterstützt und bezahlt, ohne dass ein Gedanke darauf verschwendet wird, wo das Geld herkommen soll.“ [10]
Dass dieser Wandel der Gesellschaft dem Zusammenhalt der Familien eher abträglich ist, versteht sich von selbst. Deutlich wird aber auch, dass es um mehr geht, als „nur“ die Entwicklung neuer familialer Lebensformen.
[7] Exemplarisch für diese Sicht: Bernhard Gückel: Gibt es eine Krise der Familie? Eine Lebensform im Spannungsfeld zwischen Wandel und Konstanz. Prof. Dr. Norbert F. Schneider zur Situation der Institution Familie bei der Dritten Tendenzwendekonferenz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 17. November 2011 in Berlin, im Interview in der Sendung „Kulturgespräche“ des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR 2) am 23. Dezember 2011 und im Beitrag „Geld allein ist keine Lösung“ der Publikation „The European“ vom 10. Januar 2012, S. 10-11, in: Bevölkerungsforschung Aktuell 01/2012, S. 10-11
3.4.6. Die Infantilisierung
Es ist seit geraumer Zeit eine Entwicklung zu einer infantilen Gesellschaft zu beobachten. Der Trend zum Kindischen und der Unwille, erwachsen zu werden, verstärken sich. Immer mehr Mittdreißiger verlängern ihre Jugend bis hart an den Vorruhestand. Jugendwahn, Körperkult, Narzissmus und egoistische Selbstverwirklichung bilden ein neues Massenphänomen die „Kindliche Gesellschaft“.[1] Die Grenzen zwischen dämlich und kindisch, pubertär und halberwachsen sind dabei fließend.
An dieser Stelle soll nur auf zwei Punkte aufmerksam gemacht werden.
Zum einen wird nicht mehr mit zwanzig geheiratet und eine Familie gegründet, wenn also Mann wie Frau auf dem Höhepunkt ihrer reproduktiver Kraft stehen, sondern der Zeitpunkt wird immer weiter nach hinten verschoben, bei Frauen oft bis an die Grenze, wo ihre Fruchtbarkeit zur Neige geht. Offenbar scheut man die Verantwortung und möchte die unbeschwerte Jugendzeit künstlich verlängern.
Zum zweiten wird immer mehr Verantwortung an den Staat, beziehungsweise an die HelferInnenindustrie abgetreten.
Norbert Bolz schreibt dazu, dass „Soziale Gerechtigkeit“ als Umverteilung für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit sorgt; sie bringt den Menschen bei, sich hilflos zu fühlen. Bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen muss man nämlich damit rechnen, dass der Versuch, den Opfern zu helfen, das Verhalten reproduziert, das solche Opfer produziert. Wer lange wohlfahrtsstaatliche Leistungen bezieht, läuft Gefahr, eine Wohlfahrtsstaatsmentalität zu entwickeln; von Kindesbeinen an gewöhnt man sich daran, von staatlicher Unterstützung abzuhängen. Und je länger man von wohlfahrtstaatlichen Leistungen abhängig ist, desto unfähiger wird man, für sich selbst zu sorgen.
Bereits im Abschnitt Sozialpolitik wurde darauf hingeweisen, dass Betreuer den Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter.[2] Die staatliche Pflegeversicherung gibt es schon, da brauchen wir uns um die Alten nicht mehr kümmern. Die staatlichen Kinderdepots für die Kleinkindbetreuung kommen inzwischen auch, da brauchen wir uns auch um die Jungen nicht mehr zu kümmern. Eigentlich kümmern wir uns nur noch um uns selbst. Seit etwa Ende der 1990er Jahre entwickelt sich eine Ego-Gesellschaft, in der jeder Aufschub von Glücksmomenten als persönliche Kränkung aufgefasst wird. Jedes objektive Hindernis im Alltag erscheint als Sabotage an der Selbstverwirklichung im Hier und Jetzt. Gerade der Feminismus führt seit den 1970er Jahren ununterbrochen die Selbstverwirklichung der Frau im Munde, hat aber letztlich nur die Infantilisierung der Frau gefördert durch die Bestätigung der weiblichen Opferhaltung. Was hält die Männer ab, es den Frauen gleich zu tun?
Diese kollektive kindliche Genusssucht passt zur weit verbreiteten Abneigung gegen emotionale Bindungen und persönliche Verantwortung. Was einst Jugend war und im Werther– oder Revoluzzerstil gegen die Welt der Erwachsenen rebellierte, ist durch einen flächendeckend synthetischen Jugendwahn der ganzen Gesellschaft ersetzt worden. Das Verschwinden der Erwachsenen ist in vollem Gange. Harald Juhnke war nur der prominenteste Fall eines älteren Herrn, der, statt für seine Ausfälle regresspflichtig gemacht zu werden, immer wieder – und erfolgreich – auf regressive Unzurechnungsfähigkeit plädierte und damit die Massen unterhielt. Die legitime Schwester der Infantilisierung ist die „Viktimisierung“, der Hang, sich stets als ohnmächtiges Opfer der Gesellschaft zu inszenieren und damit die eigene Verantwortung auf ein gerade noch erträgliches Mindestmaß zu reduzieren. So scheint die Welt als ein einziger Kindergeburtstag mit angeschlossenem Ferienklub.
„Ich will gar nicht groß werden“, ruft Peter Pan, als er ins Nimmerland floh. „Ich will immer ein kleiner Junge sein und meinen Spaß haben.“ Heute gibt es nicht einen, heute gibt es viele Peter Pans. Sie sind männlich und weiblich und haben sich Nimmerland in ihre Welt geholt. Dabei erfreuen sie sich an ihren Smartphones wie das Baby an der Rassel in seiner oralen Phase.
Der amerikanische Gesellschaftskritiker Neil Postman stellte eine Tabelle der kindlichen Eigenschaften auf und setzte ihr die der Erwachsenen gegenüber. Für die Kinder stehe der Impuls, für die Erwachsenen die Überlegung, für die Jungen das Gefühl, für die Älteren die Vernunft, für die einen der Dogmatismus, für die anderen der Selbstzweifel, für die Kids der Narzissmus, für die Oldies das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Viel ist von dieser Unterscheidung im Reich der nie endenden Adoleszenz nicht übrig geblieben.[3]
Man kann sich wundern über Menschen, die zwar ein gewisses Alter erreicht haben, aber dabei offensichtlich nicht reifen. Der Eindruck entsteht, als gäbe es vermehrt eine Weigerung, Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Das Erwachsenwerden wird vor sich hergeschoben und widerwillig abgelehnt. Die einen haben kaum Einsicht, dass sie für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen müssen und fühlen sich vom Leben hart rangenommen, wenn kein Weg daran vorbei geht. Andere wiederum verhalten sich anderen Menschen gegenüber lieblos oder hinterhältig oder konsumieren Beziehungen, haben aber kein Unrechtsbewusstsein. Und überhaupt wird viel Energie darauf verwendet, die Schuld oder Verantwortung bei anderen zu suchen.
Erwachsen werden hat etwas zu tun mit Verantwortung übernehmen, doch oft gewinnt man den Eindruck, dass die Menschen nicht mal die Verantwortung für sich selbst, geschweige denn für andere übernehmem möchten. Da gibt es Familienväter Mitte 40, die sich immer neue Liebschaften genehmigen, Frauen, denen reichlich spät einfällt, dass sie sich bisher noch nicht selbst verwirklicht haben.
Die Infantilisierung Deutschlands hat auch dazu beigetragen, dass es immer weniger echte Kinder gibt. Gewiss sind gesellschaftliche Kinderfeindlichkeit, das finanzielle Risiko oder persönliche Bequemlichkeit auch Ursachen für den Fortpflanzungsunwillen der Deutschen. Doch die Großstadt-Singles jenseits der Vierzig, die Hauptverdächtigen im Falle des Bevölkerungsknicks, sind meist eher Menschen, die unter dem Einfluss hedonistischer Propagandaverheißungen so lange vor dem Erwachsenwerden geflohen sind, bis sie irgendwann mit Grausen feststellen mussten, dass sie nunmehr alt waren – zumindest körperlich. Kinder hätten in diesen Verblendungszusammenhängen nur gestört. Schlimm genug wäre schon der Realitätsschock durch das Auftreten eines Fürsorge verlangenden Kleinkindes.
Solchen Herausforderungen steht eine politische Klasse gegenüber, die von den regressiven Psychotendenzen voll erfasst wurde. Der zuletzt von Herbert Grönemeyer begreinte alte Hippietraum von den „Kindern an der Macht“ ist längst wahr geworden. Symbolhaft ließen sie sich gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends alle auf Tretrollern fotografieren. Die Zahl der freiwillig kinderlosen Flüchtlinge vor dem Erwachsenwerden unter ihnen war noch nie so groß wie im Zeitalter der Westerwelles und Fischers. Infantil sind sie schließlich selbst. Wie die lieben Kleinen in der Trance des Spiels glauben sie, die Dinge verändern zu können, in dem man sie für verändert erklärt: „Dieses Sofakissen ist ein Walfisch“, sagt der Dreijährige und sieht Moby Dick schon vor sich. „Deutschland muss wieder Weltspitze werden“, sagen die Politiker und fühlen sofort, wie alles besser wird. Dafür erwarten sie dann gleich Liebe und Anerkennung wie Kindergartenkinder, die zum ersten Mal ganz allein auf dem Töpfchen waren.[4]
Die Infantilisierung scheint die gesamte Gesellschaft erfasst zu haben. Über die Politiker in Öko- oder Piratenkluft ist dabei noch gar nicht gesprochen: „Der Piraten-Politiker, der immer weiter als Computernerd auftritt, zeigt damit, dass er keine Verantwortung übernehmen will, sondern sich nur als Führer einer Pressuregroup von chipsknuspernden Raubkopierern versteht, die im Parlament mit etwas klotzen möchten, womit sie an der heimischen Tastatur sonst nur kleckern und krümeln können.“[5]
In diese infantile und verantwortungsvermeidende Gesellschaft passt natürlich die Flickwerk-Familie:
Lustig wie Kindergeburtstag! Es wird als lustig empfunden, wenn Kinder in Bindungslosigkeit und unter ständigen Beziehungsabbrüchen aufwachsen müssen. Zu den Ritualen postmoderner Feuilleton-Diskurse gehört es, „Mythen“ zu „dekonstruieren“, die das Bewusstsein vermeintlich unaufgeklärter Zeitgenossen vernebelten. Eine besonders beliebte Zielscheibe ihrer Kritik ist die „soziale Konstruktion“ der Familie als Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern. Dieses „idealisierte“ Bild der bürgerlichen Kernfamilie sei ein Relikt der Nachkriegszeit, das den Blick auf die „Dynamik“ familialer Lebensformen verstelle. Der Rückzug der Kernfamilie seit den 1960er Jahren bedeute keinen Verlust, sondern einen Gewinn an „Vielfalt“. Es gebe daher keine Krise, sondern einen „Wandel“ der Familie.[7]
So könnte ein Banker den Kleinanleger, der seine gesamten Ersparnisse verloren hat, mit der Erklärung beruhigen, die Bankenkrise würde eben auch „Chancen“ bieten, die es zu „nutzen“ gelte. Der Konkurs wird zum Gewinn umdefiniert. Neue Lebensformen wie das „living apart together“ (LAT) werden angepriesen als „verändertes Partnerschaftsideal, das stärker auf Autonomie setzt“. Familie wandele so ihre Gestalt: Sie sei „nicht mehr so stark auf den Haushalt beschränkt“ und habe „zunehmend den Charakter von sozialen Netzwerken“. „Familie“ ist also alles und nichts. In Fernsehtalkshows ist solcher Beliebigkeit Beifall sicher, Erkenntniswert fehlt ihr jedoch ebenso wie praktischer Nutzen.
Das soziale Netzwerk ist aber von alters her die Familie und nicht die flüchtige Liebschaft. Wenn die Familie nicht mehr ist, ist auch das soziale Netzwerk futsch. Die Floskel zur Bedeutung der Familie hat etwa die Bedeutung, wie die Erklärung gegenüber dem nun mittellosen Geldanleger, man könne auch ohne Geld glücklich sein.
Für die Entscheidung zur Elternschaft ist die Institution der Ehe immer noch wichtig. Allerdings sind etwa vierzig Prozent der 30-39-Jährigen heute noch unverheiratet – seit 1980 hat sich die „Ledigenquote“ damit mehr als vervierfacht.[8] Die Ehe verliert also an Verbindlichkeit – aber führt diese „Dynamik“ zu mehr „Vielfalt“, mehr „Autonomie“ und mehr Freiheit im Zusammenleben?
Die nackte Empirie müsste eigentlich nachdenklich stimmen: Nach jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat sich der Anteil der ohne einen Partner lebenden 30- bis 40jährigen Frauen fast verdoppelt. In diesem klassischen Familienalter lebt inzwischen jede fünfte Frau und sogar jeder vierte Mann allein – Tendenz weiter steigend. Nicht wenige von ihnen dürften dieses Alleinleben weniger als selbstbestimmte Wahl, denn als unglückliches Schicksal erleben. Ihre Chancen eine eigene Familie zu gründen verbessert es sicher nicht. Aber das ist für Feuilletonisten ja auch nicht wichtig. Nebulös bleibt indes, welche Bindungen die von ihnen gepriesenen „Netzwerke“ zusammenhalten sollen.[9]
Schönheitsoperationen für ein immerwährend jugendliches Aussehen und die zunehmenden künstlichen Befruchtungen, um auch noch im fortgeschrittenen Alter schwanger werden zu können, runden das Bild der infantil gewordenen Gesellschaft ab. Je infantiler eine Gesellschaft auf einer einen Seite wird, desto paternalistischer wird sie auf der anderen Seite. Paternalismus bezeichnet eine Herrschaftsordnung, die im außerfamiliären Bereich ihre Autorität und Legitimierung auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrschenden und beherrschten Personen begründet. Mit anderen Worten: Der Staat wird immer bevormundender gegenüber einer immer unmündiger werdenden Bevölkerung auftreten. Immer mehr Vorschriften werden die Menschen in eine Richtung lenken, welche die Herrschenden als politisch und ökologisch korrekt vorgeben. Martin Lichtmesz schreibt in „eigentümlich frei“:
Dass dieser Wandel der Gesellschaft dem Zusammenhalt der Familien eher abträglich ist, versteht sich von selbst. Deutlich wird aber auch, dass es um mehr geht, als „nur“ die Entwicklung neuer familialer Lebensformen.