Mit der Frage nach der Zukunft der Familie ist es nicht getan, denn daran schließt sich die Frage nach der Zukunft der demokratischen Gesellschaft an. Die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft beschränkt sich dabei nicht auf die Fragen der Demographie oder des wirtschaftlichen Wachstums.
5.2.1. Das Diogenes-Paradoxon
Paul Kirchhof weist darauf hin, dass der freiheitliche Staat auf die Freiheit von Ehe und Familie angewiesen ist:
„Der Staat weiß, dass er darauf angewiesen ist, auch in Zukunft junge demokratiefähige Bürger zu haben. […] Würde die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sich entscheiden, als Diogenes in der Tonne zu leben, sich also um Ökonomie nicht zu kümmern, hätte niemand das Recht verletzt, weil auch diese Entscheidung Inhalt der Freiheit ist. Die soziale Marktwirtschaft, der Steuer- und Finanzstaat, wären aber an ihrer eigenen Freiheitlichkeit zugrunde gegangen. […] Dieses Angewiesensein des freiheitlichen Staates auf die Annahme eines Freiheitsangebots durch den Einzelnen gilt auch für die Freiheit von Ehe und Familie. Der Staat baut darauf, dass wir auch in Zukunft viele Kinder haben, die diesen Kulturstaat tragen, dieses Wirtschaftssystem am Leben halten, diese Demokratie mit Inhalt und Gedanken füllen. Dennoch gibt der freiheitliche Staat die Entscheidung für oder gegen die Ehe und die Familie selbstverständlich in die Hand der Berechtigten.“ [1]
Andersherum formuliert: Wenn in den Familien keine demokratiefähige Bürger heranwachsen, die diesen Kultur- und Rechtsstaat tragen, dann gibt es diesen freiheitlichen Staat nicht (mehr). Dieses in den Reden von Paul Kirchhof oft zitierte Diogenes-Paradoxon beschreibt das Spannungsverhältnis von Normalität und Normativität.
Sofern dem Staat Gestaltungsspielräume tatsächlich gegeben sind, sollte er den Schutzauftrag für Kinder und Familie mit oberster Priorität umsetzen. Das erfordern die vitalen Interessen eines jeden Gemeinwesens. Der im Grundgesetz formulierte Schutzauftrag gibt diesem Interesse lediglich Ausdruck.
Angesichts der weitreichenden Konsequenzen in Bereichen der Sozialversicherung, der Arbeitswelt, der Steuern und für die Gestaltbarkeit von Wirtschaftsprozessen sieht Kirchhof die Gesamtheit der Bürger zum Handeln aufgerufen und warnt:
„Der altersgebrechliche Mensch wird sich nicht mit der einen Hand auf eine Aktie und der anderen auf einen Fünfhunderteuroschein stützen können – er wird glücklich sein, wenn er einen Menschen findet, der ihn stützt. Und er wird ein noch größeres Glück erleben, wenn dieser Mensch sich ihm persönlich verbunden fühlt, weil er Sohn oder Tochter ist.“ [2]
In diesem Buch wurde herausgearbeitet, dass ganze Netzwerke mit der Zerstörung der Familien beschäftigt sind. Es wurde auch aufgezeigt, dass der gebotene Schutz von Ehe und Familie auf breiter Front mit rechtlichen und politischen Mitteln unterlaufen wird. Es sollte deutlich geworden sein, dass damit die Axt an die vitale Wurzel dieser Gesellschaft gelegt wurde und die Zukunft eines freiheitlichen Staates in Gefahr gebracht wird.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ [3]
Im Feudalismus regierte der König als Souverän von „Gottes Gnaden“, die Legitimität seiner Herrschaft wurde also transzendent begründet. In der Republik gibt es keine allgemein gültige Definition des Souveräns. In der Theorie ist das Volk Inhaber der Souveränität (siehe Volkssouveränität), die jedoch je nach Verfassung mehr oder weniger umfangreich an Staatsoberhäupter und Parlamente delegiert wird. Das Böckenförde-Diktum gibt einen Hinweis darauf, dass in einer Demokratie die Legitimierung der Herrschaft im Gegensatz zum Absolutismus „von unten“ geschieht. Während der absolutistische Staat seine Bürger zur Loyalität zwingen und somit die Voraussetzungen seiner Herrschaft selbst schaffen kann, ist der demokratische Staat auf die demokratische Gesinnung seiner Bürger angewiesen, die er nicht erzwingen kann.
Das führt zu Schwierigkeiten bei der Lösung der Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft ihren Fortbestand sichern und sich gegen Gefahr schützen kann. Böckenförde macht auf das Paradoxon aufmerksam, dass der Staat, bei dem Versuch die Demokratie mit „den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots“ zu verteidigen, selbst zur Diktatur wird, weil er sich damit über das „Volk als Souverän“ stellen würde.[4]
Es kann wohl mit einiger Berechtigung die Behauptung aufgestellt werden, dass in Deutschland keine Partei die Bedeutung von Ehe und Familie für die demokratische Republik erfasst haben. Vielmehr scheint der Staat mit Rauchverboten, Gender Mainstreaming und Antidiskriminierungsgesetzen eine Gesinnung seiner Bürger „von oben“ herab durchsetzen zu wollen. In dem Maße, in dem der Staat die Ordnungsmacht auch in der Familie für sich beansprucht, untergräbt er die Volkssouveränität. Denn eine staatliche Ordnungsmacht im privaten Bereich hebt die Autonomie der Familie auf und ohne diese Autonomie kann der Bürger nicht „Souverän“ des Staates sein.
5.2.3. Der Wertewandel
Wo die Zukunft der Gesellschaft diskutiert wird, ist der Diskurs über den Wertewandel nicht weit. Nach der kulturpessimistischen Interpretation Elisabeth Noelle-Neumanns hat seit den Sechziger Jahren ein kontinuierlicher Werteverfall stattgefunden. Als Symptome werden vor allem die Erosion „bürgerlicher Tugenden“, aber auch Bedeutungsverluste von Kirche und Religion genannt. Diese Sichtweise bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Helmut Klages sieht weniger einen Werteverfall als eine Wertesynthese von alten und neuen Werten. Ronald Inglehart wiederum glaubt, dass ein Wandel von materiellen zu immateriellen Werten die Demokratie letztlich stärke: Als Konsequenz des Wertewandels nimmt er eine hohe Partizipationsbereitschaft und höhere Freiheit an.
Eine Scheidungsrate von rund 50 % in Deutschland und die in diesem Buch beschriebene Zerstörung der Familie kann dazu verleiten, in das Klagelied vom Werteverfall einzustimmen. Nicht selten wird ja der Untergang des Abendlandes beschworen. (Schon wieder?) Und manche meinen sogar, der Westen hätte nichts anderes verdient. Norbert Bolz sieht es positiver:
„Wer über einen Werteverlust jammert, verkennt den Werteverzicht der modernen Gesellschaft. Dass sie nicht mehr zu bieten hat als formale Demokratie, Liberalismus und soziale Marktwirtschaft, ist gerade das Geheimnis ihrer Stärke. Diese Minimalwerte sind das erstaunliche Resultat der Geschichte abendländischer Rationalität, das wir uns nicht ernsthaft anders wünschen können.“ [5]
Es soll hier eine Synthese der Wertediskussion versucht werden. Werteverlust kann niemand wollen, denn Werte sind sinnstiftend und bilden den sozialen Kitt einer Gesellschaft. Norbert Bolz ist dahingehend zuzustimmen, dass eine moderne Gesellschaft mit einem reduziertem Wertekanon auskommt, der für alle verbindlich bleiben muss. Das ist ihre Stärke und das macht eine pluralistische Gesellschaft eigentlich erst möglich. Das ist aber kein Grund auf Werte zu verzichten. Sie werden nur auf eine zweite Ebenen verschoben. So haben Kaufleute ihren eigenen Wertekanon, Christen und Muslime haben ihren eigenen Wertekanon, Künstler und Politiker ebenfalls. Noch eine Ebene darunter sollte jede Familie ihren ganz eigenen Wertekanon haben. Das wäre das Subsidiaritätsprinzip angewandt auf dem Gebiet der Werte. In diesem Sinne wäre Religions- und Bekenntnisfreiheit als Wert auf der höchsten, allgemeinverbindlichen, Ebene angesiedelt. Der Zölibat und das islamische Kopftuch[6] wären kein Problem, weil der Wert, den der Zölibat für Katholiken hat, für Nichtkatholiken keine Wertverbindlichkeit darstellt, genauso wenig wie der Wert, den die Muslima dem Kopftuch beimisst, für andere irrelevant bleibt. Elisabeth Noelle-Neumann hat aber auch Recht, wenn sie von der Gefahr eines Werteverfalls spricht, denn es gibt ja nicht selten Stimmen, die Werte und Religion in die privaten vier Wände verbannt sehen wollen. Das ist ungerechtfertigt, weil die Subsidiarität zwischen individueller Marotte und gesellschaftlicher Verbindlichkeit noch mehrere Ebene zulässt. Appelle an Katholiken, doch (endlich) den Zölibat abzuschaffen oder an muslimische Frauen, doch (gefälligst) den Schleier abzulegen, sind vollkommen unangebracht. Denn solange nur ein Konsens über die Minimalwerte besteht, welche die demokratische und pluralistische Gesellschaft garantieren, sind gesellschaftliche Gruppen durchaus aufgefordert, ihre Wertekultur zu pflegen.
Sonja van Biezen, Elisabeth Nussbaumer: „Die Folgen jahrzehntelanger Wertezersetzung für Familie und Bonum commune“
5.2. Die Zukunft der demokratischen Gesellschaft
Mit der Frage nach der Zukunft der Familie ist es nicht getan, denn daran schließt sich die Frage nach der Zukunft der demokratischen Gesellschaft an. Die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft beschränkt sich dabei nicht auf die Fragen der Demographie oder des wirtschaftlichen Wachstums.
5.2.1. Das Diogenes-Paradoxon
Paul Kirchhof weist darauf hin, dass der freiheitliche Staat auf die Freiheit von Ehe und Familie angewiesen ist:
Andersherum formuliert: Wenn in den Familien keine demokratiefähige Bürger heranwachsen, die diesen Kultur- und Rechtsstaat tragen, dann gibt es diesen freiheitlichen Staat nicht (mehr). Dieses in den Reden von Paul Kirchhof oft zitierte Diogenes-Paradoxon beschreibt das Spannungsverhältnis von Normalität und Normativität.
Sofern dem Staat Gestaltungsspielräume tatsächlich gegeben sind, sollte er den Schutzauftrag für Kinder und Familie mit oberster Priorität umsetzen. Das erfordern die vitalen Interessen eines jeden Gemeinwesens. Der im Grundgesetz formulierte Schutzauftrag gibt diesem Interesse lediglich Ausdruck.
Angesichts der weitreichenden Konsequenzen in Bereichen der Sozialversicherung, der Arbeitswelt, der Steuern und für die Gestaltbarkeit von Wirtschaftsprozessen sieht Kirchhof die Gesamtheit der Bürger zum Handeln aufgerufen und warnt:
In diesem Buch wurde herausgearbeitet, dass ganze Netzwerke mit der Zerstörung der Familien beschäftigt sind. Es wurde auch aufgezeigt, dass der gebotene Schutz von Ehe und Familie auf breiter Front mit rechtlichen und politischen Mitteln unterlaufen wird. Es sollte deutlich geworden sein, dass damit die Axt an die vitale Wurzel dieser Gesellschaft gelegt wurde und die Zukunft eines freiheitlichen Staates in Gefahr gebracht wird.
5.2.2. Das Böckenförde-Diktum
Das Böckenförde-Diktum beschreibt das Problem säkularisierter Staaten, soziales Kapital zu erschaffen, etwas allgemeiner:
Im Feudalismus regierte der König als Souverän von „Gottes Gnaden“, die Legitimität seiner Herrschaft wurde also transzendent begründet. In der Republik gibt es keine allgemein gültige Definition des Souveräns. In der Theorie ist das Volk Inhaber der Souveränität (siehe Volkssouveränität), die jedoch je nach Verfassung mehr oder weniger umfangreich an Staatsoberhäupter und Parlamente delegiert wird. Das Böckenförde-Diktum gibt einen Hinweis darauf, dass in einer Demokratie die Legitimierung der Herrschaft im Gegensatz zum Absolutismus „von unten“ geschieht. Während der absolutistische Staat seine Bürger zur Loyalität zwingen und somit die Voraussetzungen seiner Herrschaft selbst schaffen kann, ist der demokratische Staat auf die demokratische Gesinnung seiner Bürger angewiesen, die er nicht erzwingen kann.
Das führt zu Schwierigkeiten bei der Lösung der Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft ihren Fortbestand sichern und sich gegen Gefahr schützen kann. Böckenförde macht auf das Paradoxon aufmerksam, dass der Staat, bei dem Versuch die Demokratie mit „den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots“ zu verteidigen, selbst zur Diktatur wird, weil er sich damit über das „Volk als Souverän“ stellen würde.[4]
Es kann wohl mit einiger Berechtigung die Behauptung aufgestellt werden, dass in Deutschland keine Partei die Bedeutung von Ehe und Familie für die demokratische Republik erfasst haben. Vielmehr scheint der Staat mit Rauchverboten, Gender Mainstreaming und Antidiskriminierungsgesetzen eine Gesinnung seiner Bürger „von oben“ herab durchsetzen zu wollen. In dem Maße, in dem der Staat die Ordnungsmacht auch in der Familie für sich beansprucht, untergräbt er die Volkssouveränität. Denn eine staatliche Ordnungsmacht im privaten Bereich hebt die Autonomie der Familie auf und ohne diese Autonomie kann der Bürger nicht „Souverän“ des Staates sein.
5.2.3. Der Wertewandel
Wo die Zukunft der Gesellschaft diskutiert wird, ist der Diskurs über den Wertewandel nicht weit. Nach der kulturpessimistischen Interpretation Elisabeth Noelle-Neumanns hat seit den Sechziger Jahren ein kontinuierlicher Werteverfall stattgefunden. Als Symptome werden vor allem die Erosion „bürgerlicher Tugenden“, aber auch Bedeutungsverluste von Kirche und Religion genannt. Diese Sichtweise bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Helmut Klages sieht weniger einen Werteverfall als eine Wertesynthese von alten und neuen Werten. Ronald Inglehart wiederum glaubt, dass ein Wandel von materiellen zu immateriellen Werten die Demokratie letztlich stärke: Als Konsequenz des Wertewandels nimmt er eine hohe Partizipationsbereitschaft und höhere Freiheit an.
Eine Scheidungsrate von rund 50 % in Deutschland und die in diesem Buch beschriebene Zerstörung der Familie kann dazu verleiten, in das Klagelied vom Werteverfall einzustimmen. Nicht selten wird ja der Untergang des Abendlandes beschworen. (Schon wieder?) Und manche meinen sogar, der Westen hätte nichts anderes verdient. Norbert Bolz sieht es positiver:
Es soll hier eine Synthese der Wertediskussion versucht werden. Werteverlust kann niemand wollen, denn Werte sind sinnstiftend und bilden den sozialen Kitt einer Gesellschaft. Norbert Bolz ist dahingehend zuzustimmen, dass eine moderne Gesellschaft mit einem reduziertem Wertekanon auskommt, der für alle verbindlich bleiben muss. Das ist ihre Stärke und das macht eine pluralistische Gesellschaft eigentlich erst möglich. Das ist aber kein Grund auf Werte zu verzichten. Sie werden nur auf eine zweite Ebenen verschoben. So haben Kaufleute ihren eigenen Wertekanon, Christen und Muslime haben ihren eigenen Wertekanon, Künstler und Politiker ebenfalls. Noch eine Ebene darunter sollte jede Familie ihren ganz eigenen Wertekanon haben. Das wäre das Subsidiaritätsprinzip angewandt auf dem Gebiet der Werte. In diesem Sinne wäre Religions- und Bekenntnisfreiheit als Wert auf der höchsten, allgemeinverbindlichen, Ebene angesiedelt. Der Zölibat und das islamische Kopftuch[6] wären kein Problem, weil der Wert, den der Zölibat für Katholiken hat, für Nichtkatholiken keine Wertverbindlichkeit darstellt, genauso wenig wie der Wert, den die Muslima dem Kopftuch beimisst, für andere irrelevant bleibt. Elisabeth Noelle-Neumann hat aber auch Recht, wenn sie von der Gefahr eines Werteverfalls spricht, denn es gibt ja nicht selten Stimmen, die Werte und Religion in die privaten vier Wände verbannt sehen wollen. Das ist ungerechtfertigt, weil die Subsidiarität zwischen individueller Marotte und gesellschaftlicher Verbindlichkeit noch mehrere Ebene zulässt. Appelle an Katholiken, doch (endlich) den Zölibat abzuschaffen oder an muslimische Frauen, doch (gefälligst) den Schleier abzulegen, sind vollkommen unangebracht. Denn solange nur ein Konsens über die Minimalwerte besteht, welche die demokratische und pluralistische Gesellschaft garantieren, sind gesellschaftliche Gruppen durchaus aufgefordert, ihre Wertekultur zu pflegen.